Der EuGH, angerufen vom AG Potsdam, hat am 21.Oktober 2020 entschieden, dass der Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts für individuelle Ware auch dann gelte, wenn der Unternehmer mit der Herstellung noch nicht begonnen hat.
Verbraucher genießen für bestimmte Typen von Rechtsgeschäften ein vierzehntägiges Widerrufsrecht, § 355 BGB. Das bekannteste ist sicherlich das Widerrufsrecht im Onlinegeschäft, wie es in § 312 g BGB verankert ist.
Gemäß §§ 312 g Abs.1 in Verbindung mit § 355 BGB Abs.1 steht dem Verbraucher bei Onlinebestellungen ein Widerrufsrecht zu, das er binnen 14 Tagen ausüben kann, § 355 Abs.2 BGB.
312 g räumt dem Verbraucher dieses Widerrufsrecht auch dann ein, wenn ein Geschäft „außerhalb von Geschäftsräumen“ geschlossen wurde (es gilt also nicht nur für online geschlossene Verträge), schließt das Verbraucherwiderrufsrecht in Absatz 2 aber für eine Reihe von Geschäften wiederum aus. Unter anderem ist das Widerrufsrecht ausgeschlossen für „Verträge zur Lieferung von Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind“ (kurz: Maßanfertigung oder individuelle Ware).
Hierüber hatte jetzt der Europäische Gerichtshof zu entscheiden: Die Parteien des Rechtsstreits schlossen auf einer Messe einen Vertrag über die Anfertigung und Lieferung einer Einbauküche. Teile der bestellten Küche, die vom klagenden Unternehmer zur Zeit der Widerrufsentscheidung des Beklagten noch nicht angefertigt worden waren, sollten von einer anderen Firma zusammengesetzt und bei dem Beklagten von Mitarbeitern des Klägers selbst eingebaut werden. Die vorgefertigten Teile hätten sich ohne Einbußen für den Unternehmer zurückbauen lassen; nur die Nischenrückwand, die Arbeitsplatte sowie Blenden und Passstücke wären vor Ort angepasst worden und nicht woanders wiederverwendbar gewesen. Der Beklagte übte ein angeblich bestehendes Widerrufsrecht aus, verweigerte die Abnahme der Küche und wurde vom Unternehmer auf Schadensersatz vor dem Amtsgericht Potsdam verklagt.
Wie kommt ein Fall des AG Potsdam ohne Umwege vor den EuGH? Für die Beurteilung des Falls am AG Potsdam kam es auf die Interpretation von § 312 g Abs. 2 Nr.1 BGB an. § 312 g BGB ist zurückzuführen auf Art. 16 Buchst. c der Richtlinie 2011/83/EU (Verbraucherrechterichtlinie – VRRL). Wie jede Richtlinie der EU ist die VRRL nicht unmittelbar in den Staaten der EU geltendes Recht. Sie dient der Angleichung nationaler europäischer Rechtsordnungen. Die Inhalte einer Richtlinie entfalten erst dann unmittelbare Wirkung, wenn sie in nationale Gesetze des jeweiligen Staats transformiert sind (hier: § 312 g BGB) – mal mit mehr, mal weniger Gestaltungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber. Die Auslegung von § 312 g Abs.2 Nr.1 BGB ist in Deutschland umstritten. Ein Gericht hat daher die Möglichkeit, die Sache zur Auslegung europäischen Rechts dem EuGH vorzulegen. Wie Art. 16 Buchst. c der VRRL zu verstehen ist, entscheidet final der EuGH, als zur Auslegung von Europarecht zuständige Instanz. Sein Verständnis von Art. 16 Buchst. c der VRRL ist bindend. Es bindet daher auch das AG Potsdam bei der Anwendung von § 312 g BGB. Unter Anwendung der Interpretation des EuGH wird das AG Potsdam seinen Fall in der Sache noch entscheiden.
Ob das Verbraucherwiderrufsrecht nach § 312 g BGB besteht, hängt zunächst davon ab, ob das Geschäft „außerhalb von Geschäftsräumen“ geschlossen wurde. Bei einer gewerblichen Messe kann das dann der Fall sein, wenn es nicht an einem Stand auf der Messe geschlossen wurde; dieser könnte nämlich Geschäftsraum im Sinne von § 312 g BGB sein. Da der EuGH aber keine Tatsacheninstanz ist, sondern europäisches Recht auslegt, konnte es diesen Tatbestand nicht selbst klären. Es unterstellte im zu beurteilenden Fall, dass der beklagte Verbraucher grundsätzlich ein Widerrufsrecht für Geschäfte „außerhalb von Geschäftsräumen“ gemäß § 312 g Abs. 1 BGB habe und fragte weiter, ob dieses Widerrufsrecht in Anwendung von § 312 g Abs.2 Nr.1 BGB (Maßanfertigung) ausgeschlossen sei, weil ihm das AG Potsdam diese Rechtsfrage zur Beantwortung vorgelegt hatte: Hängt der Ausschluss des Widerrufsrecht bei individueller Ware davon ab, ob der Unternehmer mit der Herstellung der Ware bereits begonnen hat? Der EuGH verneinte die Frage, die in der deutschen Rechtsprechung und Fachliteratur bislang unterschiedlich beantwortet wird. Dabei wog er nicht etwa die Interessen der Beteiligten – Verbraucher und Unternehmer – gegeneinander ab und er entschied auch nicht auf den Einzelfall ausgerichtet (etwa: wie weit waren die Arbeiten fortgeschritten und ließe sich das Geschäft weitgehend problemlos rückabwickeln?). Für den EuGH waren abstraktere Kriterien, Wortlaut und Rechtssicherheit, entscheidungserheblich. Materiell begünstigt das Urteil den Unternehmer.
Wortlaut des Widerrufsausschlusses
Zur Begründung zog der EuGH den Wortlaut der Regelung heran. Anders als andere Widerrufs-Ausschlusstatbestände ist der Ausschlussgrund Maßanfertigung nicht so formuliert, dass er von einem Verhalten nach Vertragsschluss abhängt. Davon ob der Unternehmer gleich nach Bestellung durch den Verbraucher mit der Fertigung bereits begonnen hat oder nicht, hängt der Widerrufsausschluss bereits nach seinem Wortlaut nicht ab.
Anders ist das, wenn
– „bei Dienstleistungsverträgen die Dienstleistung vollständig erbracht worden ist, wenn der Unternehmer die Erbringung mit der vorherigen ausdrücklichen Zustimmung des Verbrauchers … begonnen hatte“,
– „versiegelte Waren geliefert werden, die aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder aus Hygienegründen nicht zur Rückgabe geeignet sind und deren Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde“,
– „Ton- oder Videoaufnahmen oder Computersoftware in einer versiegelten Packung geliefert wurden und die Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde“
– „digitale Inhalte geliefert werden, die nicht auf einem körperlichen Datenträger geliefert werden, wenn die Ausführung mit vorheriger ausdrücklicher Zustimmung des Verbrauchers … begonnen hat“.
Diese Fälle des § 312 g Abs. 2 BGB sind dadurch gekennzeichnet, dass erst ein Verhalten nach Vertragsabschluss das Widerrufsrecht ausschließt. Für den Ausschlussgrund Maßanfertigung im Sinne des § 312 g Abs. 2 Nr. 1 BGB kommt es auf ein Verhalten nach Vertragsabschluss nicht an.
Informationspflicht des Unternehmers
Auffällig an den oben benannten Ausschlussgründen des § 312 g Abs. 2 BGB ist, dass jeweils ein Verhalten des bestellenden Verbrauchers und nicht des Unternehmers entscheidet, ob das Widerrufsrecht untergeht: Mit der Zustimmung des Verbrauchers leistet der Unternehmer seinen Dienst, bevor die Frist für das Widerrufsrecht abgelaufen ist (das Widerrufsrecht also faktisch keinen Sinn mehr hat, denn der Vertrag ist bereits erfüllt); der Verbraucher öffnet versiegelte Frischware (und schafft auf diese Weise die Ursache dafür, dass der Unternehmer es nicht mehr zurücknehmen und an einen Dritten verkaufen kann) usw.
Über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechts, seine Bedingungen und die Folgen der Ausübung muss der Unternehmer den Verbraucher vor Abschluss eines Vertrages informieren, Art 6 Abs.1 Buchst. h und k VRRL, umgesetzt in nationales Recht durch Artt. 246 Abs.3, 246a § 1 Abs.3 Nr.1 EGBGB. Der EuGH meint:
„Das Bestehen des Widerrufsrechts des Verbrauchers an ein zukünftiges Ereignis zu knüpfen, dessen Eintritt von der Entscheidung des Unternehmers abhängt, wäre jedoch mit dieser Pflicht zur vorvertraglichen Unterrichtung unvereinbar.“ (Urteil RN 27)
Und entscheidend: Die Rechtssicherheit
Zweck der Rechtsgrundlage für die Verbraucherrechte sei es u.a., die Rechtssicherheit von Geschäften zwischen Unternehmern und Verbrauchern zu erhöhen.
Daher sollen „Situationen vermieden werden, in denen das Bestehen oder der Ausschluss des Widerrufsrechts des Verbrauchers davon abhängen würde, wie weit die Vertragserfüllung durch den Unternehmer fortgeschritten ist; über diesen Fortschritt wird der Verbraucher üblicherweise nicht informiert, und er hat daher erst recht keinen Einfluss darauf.“ (Urteil RN 29)
Fazit
Bei Verträgen über Waren, die nicht vorgefertigt sind und für deren Herstellung eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind, besteht ein Verbraucherwiderrufsrecht nicht. Das gilt unabhängig davon, ob der Unternehmer mit der Fertigung bereits begonnen hat.
Die Entscheidung des EuGH ist zumindest unter dem Gesichtspunkt der Rechtsklarheit zu begrüßen.
Zwar hat der EuGH einen Fall entschieden, der durch einen Vertragsabschluss gleichzeitig anwesender Personen außerhalb von Geschäftsräumen gekennzeichnet ist. Die Entscheidung wird aber auch für den anderen Tatbestand des § 312 g Abs.1 BGB gelten, für das Fernabsatzgeschäft, insbesondere also für die Onlinebestellung des Verbrauchers. Die Interessenlagen der Beteiligten bei Bestellung individueller Ware sind dieselben. Und die Urteilsbegründungen des EuGH treffen die Situation im Onlinehandel ebenso wie bei Vertragsabschlüssen außerhalb von Geschäftsräumen.
Ob das Urteil des EuGH für Zurückhaltung bei der Online-Bestellung individueller Waren sorgt, bleibt abzuwarten. Verbraucher werden bei Bestellung solcher Ware allerdings größere Vorsicht walten lassen. Ihre Interessen (z.B. Schutz vor Überrumpelung, übereilte Kaufentscheidungen) treten im Ergebnis dieser Gerichtsentscheidung hinter Unternehmerinteressen zurück.
Betreiber von Webshops können ihrer Informationspflicht über ein fehlendes Widerrufsrecht bei individueller Ware im Sinne des § 312 g Abs.2 Nr.1 BGB jetzt mit der nötigen Klarheit genügen. Sie können zweitens unmittelbar nach Vertragsschluss mit der Fertigung der Ware beginnen, da dem Verbraucher das vorgenannte Widerrufsrecht nicht zusteht.
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§ 312 g Abs. 2 Nr.1 BGB, Art. 16 Buchst. c der Richtlinie 2011/83/EU (Verbraucherrechterichtlinie – VRRL)