Christian Kirchberger - Blog zum Recht der digitalen Wirtschaft

Arbeitsgericht Wesel – Eilentscheidung: Mitbestimmungsrecht auch in durch Corona bedingten Eilfällen

Amtgericht Wesel Mitbestimmungsrecht Corona-2

Das Arbeitsgericht Wesel hat am 24.04.2020 in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (2 BVGa 4/20) beschlossen, dass auch bei der durch das Corona-Virus bestehenden Eilbedürftigkeit von Arbeitgebermaßnahmen die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats Bestand haben.

  1. Sachverhalt

Ein Logistikunternehmen ermittelte mit Hilfe der auf seinem Betriebsgelände installierten Kameras diejenigen Bereiche, in denen die jeweils anwesenden Personen die wegen der Corona-Pandemie empfohlenen Sicherheitsabstände nicht einhalten konnten. Die Ursachen etwaiger Unterschreitungen wurden anschließend untersucht, um dann Anpassungen der Betriebsabläufe (Laufwege, Abstellflächen usw.) vornehmen zu können. Im Betrieb fand eine Betriebsvereinbarung zur Installation und Nutzung von Überwachungskameras Anwendung.

Technisch verfuhr der Betrieb folgendermaßen: Standbilder, die im 5-Minuten-Rythmus durch die auf dem Betriebsgelände bereits installierten Videokameras erzeugt wurden, klassifizierte eine Software derart, dass Bildmaterial mit zwei oder mehr Personen verpixelt an das Amazon Vision Operations Center (AVOC-Team) in Dublin, Republik Irland, weitergeleitet wurden. Dort qualifizierten IT-Systeme das Bildmaterial nach den Abständen zwischen den erfassten Personen und den möglichen Ursachen für etwaige Unterschreitungen eines Sicherheitsabstands von 2 Metern. Ergebnisse fasste das AVOC in Reports zusammen, die u.a. dem Standortleiter des Logistikbetriebs täglich zur Verfügung gestellt wurden.

Aufforderungen des Betriebsrats mit E-Mails vom 07.04.2020, 08.04.2020 und dem 16.04.2020 an das Logistikunternehmen, die Übermittlung und Auswertung der Kameradaten zum Zwecke der Abstandsmessungen einzustellen und sein Mitbestimmungsrecht einzuhalten, blieben fruchtlos. Am 16.04. verfolgte der Betriebsrat seine Ansprüche im einstweiligen Verfügungsverfahren weiter.

  1. Betriebsvereinbarung

Gemäß § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG hat der Betriebsrat mitzubestimmen, wenn technische Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, eingeführt oder angewendet werden. Dabei entscheidet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ob die technische Einrichtung zur Überwachung objektiv geeignet ist, wenn sie also individualisierte oder individualisierbare Verhaltens- oder Leistungsdaten selbst erhebt und aufzeichnet, sodass es auf die subjektive Überwachungs- oder Verwendungsabsicht des Arbeitgebers nicht ankommt. Zweifelsfrei handelt es sich bei im Betrieb installierten Kameras um solche technischen Einrichtungen, sodass ihre Anwendung mitbestimmungspflichtig ist.

Im zu entscheidenden Fall seien nach Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts Aufnahme und Speicherung des Bildmaterials von der bestehenden Betriebsvereinbarung bereits gedeckt. Das heißt, ihren Einsatz haben der Betrieb und der Betriebsrat in Ausübung seines Mitbestimmungsrechts gemeinsam vereinbart. Das gelte auch für den vom Logistikunternehmen konkret verfolgten Zweck der Bildqualifizierung mit Blick auf die Corona-Pandemie, denn die Anwendung der Systeme sei gemäß den Regelungen der Betriebsvereinbarung auch „zum Schutz der Mitarbeiter vor Gesundheitsgefahren“ gestattet.

  1. Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG im Übrigen

Nicht von den Regelungen der Betriebsvereinbarung erfasst seien allerdings die konkrete Verarbeitung inklusive der Übermittlung der Daten nach Irland. Die Betriebsvereinbarung erlaube die Speicherung der Bilder nur auf lokalen Netzwerkrecordern und deren Auswertung nur durch bestimmte in der Betriebsvereinbarung aufgeführte Personen.

Das Unternehmen hatte § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG also insoweit nicht erfüllt, als einzelne Aspekte seiner Auswertungsmaßnahmen von der Betriebsvereinbarung nicht gedeckt waren und es dem Betriebsrat das Recht auf Mitbestimmung in Bezug auf eben diese Aspekte verweigerte.

  1. Keine mitbestimmungsfreie Maßnahme

a) Die Maßnahmen seien nicht deshalb mitbestimmungsfrei gewesen, weil das Logistikunternehmen nur anonymisierte Daten verarbeitet habe. Zwar greift § 87 Abs.1 Nr.6 BetrVG dann nicht, wenn erhobenen Verhaltens- oder Leistungsdaten einzelne Arbeitnehmer nicht zugeordnet werden können, sie also nicht individualisiert oder individualisierbar sind. Im Falle der Anonymisierung von (Video-)Daten müsse die Anonymisierung  dauerhaft und irreversibel sein. Im konkreten Fall habe das Unternehmen aber nicht glaubhaft machen können, dass die Verpixelung der erhobenen Videodaten nicht wieder rückgängig gemacht werden kann.

In Eilverfahren wird kein Vollbeweis erhoben wie in den sogenannten Hauptsacheverfahren. Das würde dem Sinn von Eilverfahren, die darauf angelegt sind, schnell eine vorübergehende Rechtslage zu schaffen, widersprechen. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist es Sache der Parteien, den behaupteten Sachverhalt durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft zu machen. Auch im vorliegenden Fall hat das Unternehmen eidesstattliche Versicherungen vorgelegt. Keine dieser Versicherungen habe aber die Behauptung bestätigt, dass die Verpixelung der Aufnahmen unumkehrbar sei.  

b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts besteht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auch in Eilfällen. Das gelte insbesondere, wenn der Eintritt des Eilfalls vorhersehbar ist.

„Auch unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Corona-Pandemie, bei der es sich um eine außergewöhnliche und in dieser Form wohl präzedenzlose Situation handelt, ist der Arbeitgeber daher gehalten, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates zu wahren.“ (Beschluss RN 87)

Anders allerdings für Notfälle. Um einen Notfall habe es sich im konkreten Fall nicht gehandelt:

„Lediglich in sog. Notfällen, in denen sofort gehandelt werden muss, um von dem Betrieb oder den Arbeitnehmern Schaden abzuwenden und in denen entweder der Betriebsrat nicht erreichbar ist oder keinen ordnungsgemäßen Beschluss fassen kann, wird ein Recht des Arbeitgebers für einseitige Anordnungen diskutiert. Schon dem Grundsatz der vertrauensvollen Arbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG) kann entnommen werden, dass in solchen extremen Notsituationen der Arbeitgeber das Recht hat, vorläufig zur Abwendung akuter Gefahren oder Schäden eine Maßnahme durchzuführen, wenn er unverzüglich die Beteiligung des Betriebsrats nachholt… . Wenngleich die Corona-Pandemie mit gravierenden Bedrohungen für die Gesundheit von Betriebsangehörigen und Dritten – z.B. Kunden des Arbeitgebers einhergeht und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Betriebe immens sind, liegt aus Sicht der Kammer kein Notfall im obigen Sinn vor. Denn ein solcher setzt jedenfalls eine akute Gefahr, die es abzuwenden gilt, voraus. Davon ausgehend mag die Maßnahme zur Abstandsüberwachung der Beteiligten zu 2. zwar geeignet und erforderlich sein, um die Ausbreitung des Corona-Virus im Betrieb zu vermeiden und damit den Schutz der Arbeitnehmer zu bezwecken. Allein die kontinuierliche Ausbreitung des Virus führt jedoch nicht dazu, dass er bereits als akute Gefahr für den Betrieb und damit als extremer Notfall anzusehen ist.“ (Urteil RN 88)

  1. Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs.1 Nr.7 BetrVG

Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Wesel habe das Logistikunternehmen auch die Vorschrift des § 87 Abs.1 Nr.7 BetrVG verletzt. Nr. 7 schreibt vor, dass dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht, wenn der Arbeitgeber Regelungen zum Gesundheitsschutz zu treffen hat. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG entsteht, sobald eine konkrete Gefährdung entweder feststeht oder im Rahmen einer nach § 5 ArbSchG vom Arbeitgeber durchgeführten Beurteilung der Arbeitsbedingungen festgestellt wurde. Nach der Konzeption des Arbeitsschutzgesetzes baut die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG auf § 5 ArbSchG auf. Die Gefährdungsbeurteilung ist das maßgebende Instrument, um von der Arbeit ausgehende Gefährdungen zu ermitteln. Auch die Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung i.S.v. § 5 ArbSchG unterliegt dem Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Diese umfasst etwa die zu untersuchenden Arbeitsplätze und Tätigkeiten, die Gesundheitsfaktoren, die Untersuchungsmethoden sowie das Verfahren.

Zwar habe im zu entscheidenden Fall noch keine konkrete Gefährdung vorgelegen, so das Arbeitsgericht. Die Auswertung der Standbilder sei aber eine Maßnahme der Gefährdungsbeurteilung gewesen. Die Auswertung des Bildmaterials habe gerade der Feststellung, ob überhaupt entsprechende Gefahren bestehen, gedient. Dies sei Sinn und Zweck der Gefährdungsbeurteilung. Die Auswertung von Bildmaterial des Betriebes sei eine Untersuchungsmethode der Gefährdungsbeurteilung gewesen, hinsichtlich derer dem Antragssteller ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zugestanden habe.

  1. Prozessuales

Der Betriebsrat konnte seine Mitbestimmungsrechte durch Erlass einer einstweiligen Verfügung im Eilverfahren durchsetzen. Die Idee hinter dem einstweiligen Rechtsschutz: Müsste der Betriebsrat das sogenannte Hauptverfahren durchführen, würde er eine Entscheidung erst zu einem Zeitpunkt erhalten, zu dem die Bildverarbeitung durch den Arbeitgeber für einen langen Zeitraum unbeanstandet durchgeführt worden wäre. Möglicherweise zu einem Zeitpunkt, an dem die Verarbeitung der Daten nicht mehr durchgeführt wird, die Sache sich also durch Zeitablauf erledigt hat. Die Gefahr besteht, dass bei Hauptsacheverfahren die Entscheidung des Gerichts für den in seinen Rechten verletzten Beteiligten zu spät kommt.

Dies gilt insbesondere für Verfahren, in denen es um die Verletzung von Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte geht. Angelegenheiten des Betriebsverfassungsgesetzes (hier eine Angelegenheit des § 87 Abs.1 BetrVG) werden gemäß § 2a Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) im sogenannten Beschlussverfahren durchgeführt. Erst wenn sie rechtskräftig sind, können sie vollstreckt werden, § 85 Abs.1 ArbGG. Und der Weg von den Arbeitsgerichten zu den Landesarbeitsgerichten (§ 87 ArbGG) und ggf. zum Bundesarbeitsgericht (§ 92 ArbGG) kann Jahre dauern.

Ein Arbeitsgericht prüft also, ob ohne Erlass einer einstweiligen Verfügung für den Antragssteller ein wesentlicher Nachteil entsteht. Erforderlich ist, dass die Interessen des Antragstellers so gefährdet sind, dass durch Veränderung des status quo dessen Rechtsverwirklichung im gegenwärtigen oder zukünftigen Hauptverfahren vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies prüft das Gericht durch umfassende Interessenabwägung. Dabei kommt es darauf an, ob die glaubhaft gemachten Gesamtumstände es in Abwägung der beiderseitigen Interessen und Belage zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich erscheinen lassen, eine sofortige Regelung zu treffen. Für die Feststellung der Eilbedürftigkeit für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wegen Verletzung von Beteiligungsrechten des Betriebsrats komme es daher darauf an, ob für die Zeit bis zum Inkrafttreten einer mitbestimmten Regelung, der damit bezweckte notwendige Schutz der Arbeitnehmer unwiederbringlich vereitelt wird.

Mit Blick auf § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (Mitbestimmung des BR u.a. bei Maßnahmen des Gesundheitsschutzes) erkannte das Arbeitsgericht, dass die Auswertungsmaßnahmen des Logistikunternehmens zum Zwecke der Vermeidung der Ausbreitung des Corona-Virus und zum Schutz aller Mitarbeiter vorgenommen worden seien (Urteil RN 99). Und dass zweitens die Arbeitgeberin vor der Herausforderung gestanden habe, einerseits die Belegschaft schützen zu wollen und andererseits darüber zunächst einen Konsens mit dem Betriebsrat habe erzielen müssen, daher nicht auszuschließen gewesen sei, dass der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer nicht in demselben Maß hätte gewährleistet werden können.

Das Logistikunternehmen habe aber Maßnahmen gewählt, die massiv in die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer eingegriffen hätten. Eine Entscheidung im Eilverfahren sei daher geboten gewesen:

„Dies führt im Rahmen der vorgenommenen umfassenden Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass zur Abwendung wesentlicher Nachteile, eine sofortige Regelung zu treffen ist. Die Übermittlung nicht anonymisierter Kameraaufnahmen ins Ausland verletzt die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer schwerwiegend. Mit der laufenden und weiterhin beabsichtigten Übermittlung und Verarbeitung der Daten hat die Beteiligte zu 2. [das Logistikunternehmen] Fakten geschaffen, die das Mitbestimmungsrecht und die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer ständig wiederholend verletzen. Auch ist die bereits erfolgte Übermittlung der Daten nicht umkehrbar. Die eindeutig und offensichtlich gegen eine geltende Betriebsvereinbarung verstoßende Arbeitgeberin ist in ihrem Verhalten nicht schutzwürdig. Zudem hat die Beteiligte zu 2. selbst vorgetragen, dass bereits anderweitige Maßnahmen (lokale Kontrollen, Einsatz von Social Distancing Ambassadors) zur Überwachung der Einhaltung des Gesundheitsschutzes ergriffen worden sind. Diese mögen aufgrund der Größe des Betriebes und der Anzahl der Mitarbeiter nicht gleich effektiv sein. Es ist jedoch nicht zu befürchten, dass der Schutz der Arbeitnehmer im Betrieb ohne die Auswertung der Kameraaufnahmen vollständig vereitelt wird.“ (Urteil RN 100)

Das Arbeitsgericht lässt bei der Abwägung der Interesssen der streitenden Beteiligten außer Acht, dass in der Republik Irland, einem EU-Mitgliedsstaat, mit der DSGVO weitgehend dasselbe Datenschutzrecht gilt wie in Deutschland. Warum daher durch Übermittlung nicht anonymisierter personenbezogener Daten (die Standbilder) „ins Ausland“ die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer schwerwiegend verletzt seien, hätte es daher ausführen müssen. Zwar verstieß die Auswertungspraxis des Logistikunternehmens gegen eine Regelung der Betriebsvereinbarung. Diesem Auslands-Aspekt kann angesichts der DSGVO-Geltung in beiden Ländern kein großes Gewicht zukommen. Bleibt für die Interessenabwägung (i) die nicht glaubhaft gemachte Dauerhaftigkeit der Anonymisierung des Bildmaterials und (ii) der Verstoß gegen die Regelung der Betriebsvereinbarung, wonach nur bestimmte Personen mit der Auswertung von Bildmaterial betraut werden können, nicht aber Dritte.

  1. Fazit in Zeiten von Corona

Ein Unternehmer sollte in jeder Hinsicht (Ausprägung, Technik, Zweck usw.) prüfen, welche durch Corona bedingten Maßnahmen inwieweit bereits von einer Betriebsvereinbarung gedeckt sind. Soweit sie es nicht sind, muss der Betrieb unter Anwendung von § 87 BetrVG feststellen, ob die beabsichtigte Maßnahme mitbestimmungspflichtig ist. Nicht mitbestimmungspflichtige sogenannte Notfallmaßnahmen, die ein sofortiges Tätigwerden erfordern, werden durch Corona bedingte Maßnahmen in der aktuellen Situation in der Regel nicht sein.  

 

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§ 87 Abs. 1  Nr. 6 und Nr. 7 BetrVG

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